Das ist die Munition, auf die alle Ergotherapeuten gewartet haben, die sich noch häufig genug verteidigen müsse: eine verstärkte Empfehlung für Ergotherapie bei Demenz von hochrangiger Stelle. Die aktuelle S3-Leitlinie "Demenz" erhebt Ergotherapie von einer "Kann"-Empfehlung in den Rang einer "Sollte"-Empfehlung - dank neuer, hochwertiger und evidenzbasierter Forschungsergebnisse. Wir zeigen, wie ihr davon profitiert!
Empfehlung für die Ergotherapie
Immer wieder wird der Sinn und der Nutzen der ergotherapeutischen Intervention bei Demenz hinterfragt - von Angehörigen, Ärzten und anderen Berufsgruppen. Nun können sich alle auf die Empfehlung der S3-Leitline "Demenzen" (PDF) berufen. Veröffentlicht haben sie die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) und die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) in Zusammenarbeit mit der Deutschen Alzheimer Gesellschaft e. V. sowie mit Vertretern von 23 Fachgesellschaften und Berufsverbänden.
S3-Leitlinie – Was ist das eigentlich?
Eine S3-Leitlinie ist eine medizinische Leitlinie der Entwicklungsstufe S3. Diese Entwicklungsstufe entspricht der höchsten Qualitätsstufe durch ihre systematische Entwicklungsmethodik und den kritischen Rückgriff auf wissenschaftliche Studien. Anders als Richtlinien sind Leitlinien nicht rechtsverbindlich, sondern nur eine Empfehlung von Experten für Angehörige bestimmter Gesundheitsberufe. Entwickelt werden sie in erster Linie von der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF). In der Praxis werden Leitlinien häufig nur mangelhaft umgesetzt. Mehr bei Wikipedia.
Auf den Punkt bringt es die Empfehlung Nr. 75:
"Es gibt Evidenz, dass ergotherapeutische, individuell angepasste Maßnahmen bei Patienten mit leichter bis mittelschwerer Demenz unter Einbeziehung der Bezugspersonen zum Erhalt der Alltagsfunktionen beitragen. Der Einsatz sollte angeboten werden."
S3-Richtlinie "Demenzen" empfiehlt viele weitere ergotherapeutische Maßnahmen
Doch weit mehr Passagen des 130-seitigen Dokuments empfehlen verschiedene ergotherapeutische Verfahren. Wir haben sie für euch rausgesucht und in ihrer Bedeutung eingeordnet.
Kernaussage | Aussage in der "S3-Leitlinie "Demenzen" (Langfassung) | Bedeutung für die Ergotherapie |
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Psychosoziale Intervention vor pharmazeutischer Behandlung |
S. 67, Kap. 3.2 "Soweit es die klinische Situation erlaubt, sollten alle verfügbaren und einsetzbaren psychosozialen Interventionen ausgeschöpft werden, bevor eine pharmakologische Intervention in Erwägung gezogen wird." |
Ein wesentliches Argument für das Ausstellen einer Heilmittelverordnung, auch wenn es für die Ergotherapie von schwerer Demenz noch keine "soll/B"- Empfehlung gibt. In Kombination mit der direkten "soll/B" Empfehlung für Patienten mit leichter bis mittelschwerer Demenz besteht nun die Möglichkeit, dass sich Angehörige etwa direkt im Anschluss nach der Diagnostik auf diese Empfehlung berufen und somit eine Verordnung für Ergotherapie vom Arzt erhalten. |
In der Betreuung von Demenzkranken und deren Angehörigen ist die psychosoziale Intervention ein zentraler und notwendiger Bestandteil. |
S. 84, Kap. 3.4 "Psychosoziale Interventionen sind zentraler und notwendiger Bestandteil der Betreuung von Demenzerkrankten und deren Angehörigen." |
Die Ergotherapie ist dem Kapitel der "Psychosozialen Interaktion" zugeordnet und stellt somit eine mögliche Leistung aus dem Bereich dar. |
Eine "Soll/B" Empfehlung für das Angehörigentraining zum Umgang mit psychischen und Verhaltenssymptomen bei Demenz |
S. 93, Kap. 3.4.6 Empfehlung 82 - Grad B "Angehörigentraining zum Umgang mit psychischen und Verhaltenssymptomen bei Demenz können geringe Effekte auf diese Symptome beim Erkrankten haben. Sie sollten angeboten werden." |
Wie auch schon die direkte Empfehlung (75) für Ergotherapie eine Aussage zum Einbeziehen der Angehörigen macht, so bestärkt diese Aussage die Therapeuten, die direkt mit dem Angehörigen arbeiten. Integriert in die Behandlung schafft die Aussage ein gutes Argument, weshalb es zur ganzheitlichen Therapie dazugehören sollte. |
Ein eigenes Kapitel für die "Kognitiven Verfahren" (Kapitel 3.4.1) mit einer B-Empfehlung für die kognitive Stimulation bei leichter bis moderater Demenz |
S. 87, Kap. 3.4.1 Empfehlung 73 - Grad B "Es gibt Evidenz für die Wirksamkeit von kognitiver Stimulation auf die kognitive Leistung bei Patienten mit leichter bis moderater Demenz. Kognitive Stimulation sollte empfohlen werden." S. 87, Kap. 3.4.1 Empfehlung 74 - Grad B "Reminiszenzverfahren können in allen Krankheitsstadien aufgrund von Effekten auf die kognitive Leistung, Depression und lebensqualitätsbezogene Faktoren zur Anwendung kommen." |
Ein Bestandteil der Ergotherapie ist das "Hirnleistungstraining". Hierrunter fallen auch verschiedene Angebote, welche im Rahmen der vom Arzt verordneten und/oder z. B. in Alten- und Pflegeheimen als präventives Angebot erbrachten Leistungen. So ist die "Aktivierung von autobiographischen, insbesondere emotional positiv besetzten Altgedächtnisinhalten (= Reminiszenztherapie)" ein fester Bestandteil des ergotherapeutischen Angebotsspektrums. |
Es gibt Hinweise darauf, dass ein Einzeltraining der Reminiszenztherapie (laut Leitline: Aktivierung von autobiographischen, insbesondere emotional positiv besetzten Altgedächtnisinhalten) möglicherweise wirksamer ist. |
S. S. 87, Kap. 3.4.1 Im Kapitel "Kognitive Verfahren" gibt es folgende Aussagen: "Erste Ergebnisse weisen darauf hin, dass Reminiszenztherapie möglicherweise im Einzelsetting wirksamer ist." "Wie eine aktuelle große Metaanalyse zeigt, ist ebenfalls ein Effekt von Reminizienztherapie bei Patienten mit Alzheimer-Demenz, insbesondere auf Depression, Kognition und Lebensqualitätbezogenene Endpunkte Feststellbar." |
Diese Aussage ist ein sehr gutes Argument
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Körperliche Aktivität (Kapitel 3.4.3) wird empfohlen (Grad B), jedoch gibt es keine klare Empfehlung für bestimmte körperliche Aktivierungsverfahren. |
S. 90, Kap. 3.4.3 Empfehlung 76 - Grad B "Es gibt Hinweise, dass körperliche Aktivierung positive Wirksamkeit auf kognitive Funktionen, Alltagsfunktionen, psychische und Verhaltenssymptome, Beweglichkeit und Balance hat. Körperliche Aktivität sollte empfohlen werden. Es existiert jedoch keine ausreichende Evidenz für die systematische Anwendung bestimmter körperlicher Aktivierungsverfahren." |
Belegt die Wichtigkeit der ganzheitlichen Arbeit und der Integration von Bewegungselementen in die praktische Arbeit.
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Multisensorische Verfahren wie Snoezelen können bei moderater bis schwerer Demenz empfohlen werden |
S. 92, Kap. 3.4.5.2 Empfehlung 80 - Grad 0 (= kann) "Multisensorische Verfahren (Snoezelen) mit individualisierten, biographiebezogenen Stimuli im 24-Stunden-Ansatz können geringe Effekte auf Freude und Aktivität bei Patienten mit moderater bis schwerer Demenz haben. Sie können empfohlen werden." |
Leider fehlt zum aktuellen Zeitpunkt der wissenschaftliche Beleg für eine "soll/B"-Empfehlung. Jedoch in Kombination mit Argumenten wie "Psychosoziale Intervention vor pharmazeutischer Behandlung" lohnt es sich, sich für solche Angebote einzusetzen, zumal es im Kapitel 3.5.1 "Psychosoziale Interventionen bei psychischen und Verhaltenssymptomen" ein klares Statement u. a. für die jeweiligen Verfahren gibt (vgl. Abschnitt "Interessantes für Alten- und Pflegeheime" in diesem Artikel). |
Therapiekontrolle z. B. der ergotherapeutischen Intervention beispielsweise durch das AMPS ("Assessment of Motor and Process Skills") möglich |
S. 35, Kap. 2.4 "Instrumente wie z. B. das AMPS ("Assessment of Motor and Process Skills") sind auch zur Therapiekontrolle bei z. B. ergotherapeutischen Maßnahmen einsetzbar." |
Für die praktische Arbeit am und mit dem Patienten hat diese Aussage kaum Relevanz, jedoch betrachtet man den Kontext, in dem der Satz geschrieben wurde, ist dieser umso bedeutungsvoller. Die Ergotherapie wurde im Kapitel 2.4 "Diagnostik", "Erfassung von Beeinträchtigungen alltagsbezogener Fähigkeiten sowie von psychischen und Verhaltenssymptomen" |
Besonders die Aussagen wie "psychosoziale Intervention vor pharmazeutischer Behandlung", die B-Empfehlung für das für das "Angehörigentraining zum Umgang mit psychischen und Verhaltenssymptomen bei Demenz" und die klaren Empfehlungen für den Einsatz von "kognitiven Verfahren" und "körperlicher Aktivität" stärken die Ergotherapie. Sie geben Ergotherapeuten, anderen Fachkräften und Angehörigen Argumente, warum der Arzt eine Verordnung für Ergotherapie ausstellen sollte.
Interessantes für Alten- und Pflegeheime
Empfehlungsgrade
Üblich ist die Unterscheidung in drei Grade von Empfehlungen:
- Grad A: "Soll"
- Grad B: "Sollte"
- Grad C "Kann"
Die drei Grade unterscheiden sich darin, ob die Empfehlungen auf Studien basieren, von welcher Qualität die Studien sind und ob die Studien sich direkt auf eine Empfehlung beziehen oder ob es sich um eine Ableitung handelt.
Ergotherapeutische Maßnahmen haben dank verbesserter Studienlage den Sprung von Grad C zu Grad B geschafft.
Interessant für die Mitarbeiter in Alten- und Pflegeheimen ist, dass viele der im Abschnitt 3.5 "Empfehlungen für den Einsatz psychosozialer Interventionen bei speziellen Interaktionen" in den vorherigen Kapiteln nur eine "Kann-" oder gar keine Empfehlung erhalten haben und unter anderen Gesichtspunkten analysiert wurden. Verfahren wie Validierendes Verhalten, Erinnerungspflege, Basale Stimulation, Snoezelen, körperliche Berührung und Bewegungsförderung wurden im Kontext der stationären Pflege erneut analysiert und mittels Statement bewertet. So heißt es:
"Zur Prävention und Behandlung von psychischen und Verhaltenssymptomen (herausforderndes Verhalten) bei Demenzerkrankten kann verstehende Diagnostik, validierendes Verhalten und Erinnerungspflege eingesetzt werden. In der akuten Situation können basale bzw. sensorische Stimulation, der Einsatz von Musiktherapie, Snoezelen, körperliche Berührung und körperliche Bewegung wirksam sein. Individuelles Verhaltensmanagement, Angehörigen- und Pflegendenschulungen sowie kognitive Stimulation sind wichtige Elemente bei der Behandlung von psychischen und Verhaltenssymptomen."
Wie relevant die Aussage für die berufliche Praxis ist und wie ernst das Statement von den Ärzten genommen wird, kann derzeit schwer eingeschätzt werden. Wichtig ist, dass diese Methoden in Einzelfall indiziert sind und ein sinnvolles Angebot darstellen.
Fazit
Jeder Ergotherapeut, der mit demenzkranken Menschen arbeitet, sollte die S3-Leitlinie "Demenzen" kennen und sich bei Bedarf auf die Empfehlungen darin berufen.
Insgesamt ist die Leitlinie eine sehr gute Argumentationshilfe für Ergotherapeuten. Sie ist Beleg dafür, dass die Evidenzlage so gut ist, dass der Einsatz individueller Ergotherapie bei leichter bis mittelschwerer Demenz sinnvoll und indiziert ist. Aber auch die Erwähnung anderer, in der Ergotherapie eingesetzter Verfahren bei mittelschwerer bis schwerer Demenz gibt den Ergotherapeuten zahlreiche Argumente. Allein das Statement im Kapitel 3.5.1 "Psychosoziale Interventionen bei psychischen und Verhaltenssymptomen" sollte den Ergotherapeuten in Alten- und Pflegeeinrichtungen und in der ambulanten Therapie den Rücken stärken. In meinen Augen ist es eine Frage der Zeit, bis auch für diesen Bereich entsprechende Wirksamkeitsstudien erscheinen.
Nun ist es Aufgabe des einzelnen Ergotherapeuten, gegenüber (Fach-)Ärzten, anderen Berufsgruppen und Angehörigen mit der S3-Leitlinie "Demenzen" zu argumentieren und somit die aktuellsten Erkenntnisse weiterzutragen.
Quelle: S3-Leitlinie "Demenzen" (Langversion – Januar 2016) - PDF