Nicht selten zupfen demenziell erkrankte Menschen unaufhörlich an ihrer Kleidung, reißen sie kaputt, zerwühlen sich ihre Haare oder greifen nach allem, was sich in ihrer Reichweite befindet. Ihre Mitmenschen empfinden dieses Verhalten, das in der Fachsprache Nesteln heißt, als nervend und störend, da es viel Unruhe verbreitet. Wir haben die Nesteldecke als eine bereichsübergreifende Lösung getestet.
Was ist eine Nesteldecke?
Die Nesteldecke ist eine aus verschiedensten reizintensiven Stoffen und Materialien wie Leder, Cord und Frottee zusammengefügte Patchworkdecke. Sie verfügt über zwei große Eingriffsöffnungen, so dass zuvor hineingelegte Gegenstände beim Reingreifen weitere sensorische Reize bieten.
Erste Reaktionen der Mitarbeiter
Der Test der Nesteldecke fand in einem Alten- und Pflegeheim mit knapp über 50 Betten statt, das sich auf demenziell erkrankte Menschen spezialisiert hat. Ergänzend zu den normalen Stationen, wo alle Menschen mit den unterschiedlichsten Krankheitsbildern leben, gibt es einen geschützten Wohnbereich mit 10 Betten für demenziell erkrankte Menschen. Die Mitarbeiter nehmen regelmäßig an bereichübergreifenden Übergaben teil, in denen auch neue therapeutische und pflegerische Ansätze zur Sprache kommen.
Neugierde, aber auch Skepsis rief die Nesteldecke bei der Vorstellung im Team hervor, dem neben Ergotherapeuten noch die Pflegedienstleitung, Pflegekräfte und Mitarbeiter der Hauswirtschaft angehören. Sofort tauschten alle ihre Ideen aus, wie sie die Nesteldecke einsetzen würden. Auch Selbstversuche ließen nicht lang auf sich warten. Der erste Feldversuch sollten dennoch der Ergotherapie vorbehalten bleiben.
Ergotherapeutische Intervention
Während der Therapie gaben die Ergotherapeuten den Demenzkranken die Nesteldecke in die Hand und beobachteten zunächst, welche Automatismen sie abruft. Darauf folgte die gezielte Aktivierung. Diese fand in Kombination mit weiteren, zuvor in der Decke versteckten Gegenständen statt oder durch das gleichzeitige Initiieren von Gesprächen. Im weiteren Verlauf zogen sich die Ergotherapeuten immer mehr zurück und stellten genaue Beobachtungen an.
Folgende Fragen leiteten die anschließende Reflexion: Wie reagiert das Umfeld auf das neue Medium? Was macht der Betroffene mit der Nesteldecke? Gibt es Verhaltensänderungen während des Medieneinsatzes? Wie lang ist der Betroffene ohne externe Anregungen aktiv? Bedienen sich auch andere Teamangehörige des neuen Mediums, nachdem sie ersten erfolgreichen Einsätzen beigewohnt haben? Was hat sich nach drei Monaten Einsatz verändert?
Erste Reaktionen der Demenzerkrankten
Die bunte Decke weckte bei vielen Bewohnern großes Interesse und erregte immense Aufmerksamkeit. Viele nahmen die Decke einfach, kuschelten mit ihr oder legten sie wie eine normale Decke auf den Schoß. Sie holten sich den taktilen Input, den sie vorher über das Reiben am eigenen Körper, an Gegenständen und durch vielerlei andere Tätigkeiten bezogen hatten, nunmehr über das Berühren der Nesteldecke.
Das Nesteln wirkte sich sehr verschieden auf die Befindlichkeit und das Aktivitätsniveau einzelner Bewohner aus: Manche wurden äußerlich und innerlich ruhiger. Diejenigen, die im Alltag eher ruhig wirken, legten plötzlich verstärkte Aktivität an den Tag. Einige Bewohner, die die Nesteldecke zum ersten Mal gereicht bekamen, begannen sogar, wieder zu erzählen und schilderten allen Personen im Umfeld, wie das Nähen einst wesentlicher Bestandteil ihres Lebens gewesen war. Die Dauer der ersten Aktivierungseinheiten reichte von wenigen Minuten bis hin zu mehreren Stunden.
Langfristige Verhaltensänderungen
Diese Erstreaktionen ließen sich während der drei Monate andauernden Testphase immer wieder beobachten. Selbst extrem unruhige Menschen, die während der Ergotherapie zwecks Selbststimulation Tische verrückten und die darauf stehenden Materialien zweckentfremdeten, fanden im Laufe des Testzeitraums durch die Nesteldecke nach und nach Ruhe. Diese erfüllte schließlich den ganzen Raum, so dass andere sich nicht mehr über das vorige "Fehlverhalten" beschwerten. Daher fand die Nesteldecke als Therapiematerial breiten Anklang.
Integration der Nesteldecke in den Pflegealltag
Nachdem die Ergotherapeuten erste Aktivierungen durchgeführt und die anderen Mitarbeiter die Reaktionen der Bewohner beobachtet hatten, setzten auch sie das neue Therapiemedium gezielt ein. Der minimale "Mehraufwand" rechnet sich für Pflegekräfte: Sie stellten fest, dass sie durch das Reichen der Nesteldecke weniger Arbeit hatten als zuvor. Viel seltener mussten sie Kleidungsstücke und Frisuren herrichten oder das Mobiliar aufräumen. Das gesamte Team möchte die Nesteldecke nicht mehr missen.
Fazit
Die anfängliche Skepsis des Teams gegenüber dem Medium Nesteldecke wich während der dreimonatigen Testphase zunehmender Begeisterung. Der Einwand, man könne doch genauso gut mit Handtüchern, Igelbällen und anderen Medien arbeiten, gehört der Vergangenheit an. Die Einsatzmöglichkeiten der Nesteldecke sind eindeutig variantenreicher und effektiver. Handtücher und vergleichbare Dinge besitzen dagegen ein viel geringeres Aktivierungspotential, da auch Demenzkranke sie als zweckentfremdete und weitgehend uninteressante Alltagsgegenstände wahrnehmen. Die Nesteldecke ist ein Therapiematerial, das sich in allen Bereichen gut einsetzten lässt und auch dann seinen Zweck erfüllt, wenn Ergotherapeuten oder Pflegekräfte nicht die ganze Zeit über die Aktivierung begleiten können.
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